Es geht mittlerweile auch nördlich des Alpenhauptkammes zwischen Oberkärnten und Savoyen in Frankreich um großflächig drohende Zusammenbrüche von Gletschern – wie jüngst auf dem Massiv der Marmolada im ladinischen Teil von Südtirol/Trentino am Wochenende. Dazu kommen mögliche Sturzfluten bzw. Muren durch Schmelzwasser, das sich unter den mürben Eisdecken aufbaut und aufstaut.
Forscherin warnt Bergbewohner und Alpinisten
Unter sehr vielen Gletscherzungen hätten sich in den letzten Wochen und Monaten – von außen nicht oder nur schwer erkennbare – Hohlräume gebildet, schildert die Glaziologin Andrea Fischer von der Akademie der Wissenschaften: „Diese Hohlräume können nun vielerorts ohne Vorwarnung einstürzen.“
Die Expertin hat am Wochenende den Zustand der Übergossenen Alm auf dem Hochkönig (Pongau und Pinzgau) sowie den Großen Gosaugletscher im Dachsteingebiet (Oberösterreich, Salzburg, Steiermark) analysiert. Dazu nutzte die Expertin auch unsere aktuellen Luftbilder, die hier zu sehen sind. Weitere Analysen von Standorten und Flüge folgen in den nächsten Tagen. Fotos von Samstagabend, 2. Juli 2022:
24 Stunden täglich nun Plusgrade da oben
Fischer betont, solche Zustände habe man in der Forschung bisher noch nie gesehen: „Schon jetzt zu Anfang Juli sind die meisten Gletscher weitgehend aper. Wir sehen hier eine Lage, die sonst Ende August oder in der zweiten Hälfte von September auftritt. Die Temperaturen liegen nun auch in der Nacht durchgehend da oben über dem Gefrierpunkt. Somit schmilzt das Eis über die gesamte Fläche 24 Stunden pro Tag. Die Abflüsse in den Gletscherbächen sind sehr hoch. Diese Situation ist schon in früheren Sommern aufgetreten, aber bisher immer erst am Ende der Saison in Richtung Herbstbeginn.“
Saharastaub als großer Beschleuniger
Heuer sorgt auch der mehrfach angekommene Saharastaub aus dem Frühjahr, der noch immer im Schnee des letzten Winters vorhanden ist, für zusätzliche Beschleunigung der Schmelze. Ohne diese dunkleren, wärmespeichernden Schichten würde der Schnee länger halten und länger schützen.
Diese Kombination der Faktoren sei nun äußerst ungünstig, so Fischer. Blankeis mit Schuttauflage erfordere technisch sehr sauberes Gehen mit Steigeisen, noch mit Schnee verfüllte Spalten erzwingen das Gehen in Seilschaft – wenn man lebend nach Hause kommen wolle. Zusätzlich könne eine Tour nun durch den verstärkt auftretenden Steinschlag rasch tödlich enden.
Fischer sieht noch weitere Einflüsse: „Das Eis der hochgelegenen Teile unserer Gletscher ist wesentlich dünner als das der Gletscherzungen am unteren Ende. Werden die oberen Bereiche schneefrei, kann die Sonne durch mehrere Meter Eis hindurch den Untergrund erwärmen. Auch das Schmelzwasser trägt zusätzlich Wärme unter die Gletscher ein. Auf einem Untergrund, der ohnehin aus glattgeschliffenen Felsen besteht – eine ideale Rutschbahn unter diesen Bedingungen.“
Jüngste Katastrophe auf der Marmolada
Vor genau einem Monat enstanden diese Bilder von der nunmehrigen Unglücksstelle im ladinischen Grenzgebiet Südtirols zum Trentino – mit noch deutlich mehr Schnee auf dem höchsten Berg der Dolomiten (3.343 Meter):
„Völlig neue Prozesse unter den Eismassen“
Es bilden sich laut Andrea Fischer immer mehr großflächige Hohlräume unter dem Eis, die sich dann auch mit Schmelzwasser füllen können. Die fehlende Haftreibung des Eises auf dem Untergrund führe dann zum Abbruch, sagt die Glaziologin. In Steilflanken sei das Eis mittlerweile besonders dünn und leicht auslösbar: „Zusammen mit Geröll und Schmelzwasser entstehen dann murenartige Abgänge mit großer Reichweite bis in Talböden hinunter.“
Fischer verweist auf ähnliche Prozesse, die im Himalaya und Karakorumgebirge schon Bergdörfer zerstört hätten. In den Alpen seien die Absturzhöhen der Eis, Wasser- und Schuttmassen (Glacier Outlet Floods) deutlich geringer – und damit auch die Reichweite solcher Bedrohungen: „In den nächsten Wochen ist leider mit weiterer Verschärfung der Schmelze zu rechnen. Die Dickenverluste führen auch auch zur vermehrten Mobilisierung von Schutt aus den Randklüften. Der stürzt dann über die blanken Flanken ab – zum Teil auf Anstiegsrouten von Bergsteigern und Wanderern.“
„Gefahrenbereiche meiden!“
Fischer rät Bergsportlern dringend, auf Gletschern und in deren Abflussbereichen ab sofort nur noch mit äußerster Vorsicht unterwegs zu sein. Man solle sich in den Gefahrenzonen möglichst kurz aufhalten: „Eine Entspannung ist leider erst mit dem Ende der extremen Schmelze zu erwarten, also mit den ersten kalten Nächten im Herbst.“
Eislawine im Krimmler Achental
Schon immer Sommer 2021 verschüttete eine Eislawine, die durch einen zusammenbrechenden Gletscher in der Reichenspitzgruppe entstand, große Teile eines Wanderwegs im hinteren Krimmler Achental – unweit der Richter-Hütte auf Salzburger Seite der Richterspitze (3.054 Meter) und ihrer Trabanten im Grenzgebiet zum Tiroler Zillertal.
Die Salzburger Landesgeologen Gerald Valentin und Ludwig Fegerl fotografierten das Resultat aus dem Polizeihubschrauber bei wissenschaftlichen bzw. behördlichen Erkundungen:
Keine Wegsperre im Achental: „Restrisiko“
Landesgeologe Fegerl prognostiziert bei diesem Gletscher weitere Eislawinen. Das daraus resultierende Risiko für den Wanderweg lasse „wegen der relativ geringen Eintrittswahrscheinlichkeit sowie der geringen Frequenz“ dieser Lawinen „keinen gesonderten Handlungsbedarf für den Wegehalter erkennen“. Das heißt im Klartext, die Behörde schreibt dem Alpenverein nicht vor, den Weg zu sperren. Es gilt hier also das normale Restrisiko, wie es überall im Bergsport zum Tragen kommt. Absolute Sicherheit gebe es nie, sagen Experten.
Berg- und Skiführer fordern Umdenken
Auch der Salzburger Profi-Bergsteiger, staatlich geprüfte Berg- und Skiführer sowie ehrenamtliche Bergrettungsmann Günther Karnutsch rät zu äußerster Vorsicht: „Ich bin und war im Grunde immer gegen den heute verbreiteten Alarmismus. Bei den aktuellen Bedingungen kommt jedoch noch einiges auf uns zu. Das Unglück auf dem Grand Combin vom 27. Mai mit zwei Toten und vielen teils Schwerverletzen war schon lange vor dem jüngsten Geschehen auf der Marmolada eine Warnung. Dazu kommt der verstärkte Steinschlag, weil die Permafrostböden auftauen. Die Gletscher verschwinden nun, und die Berge zerbröseln.“
Gute Tourenwahl und Tourenplanung seien mittlerweile überlebenswichtig. Gedankenlosigkeit und bewusste Nachlässigkeiten – wie sie sich bei Teilen des Massenpublikums entwickelt hätten – solle man sich nicht mehr erlauben, betont der Bergführer. Karnutsch war viele Jahre der Präsident seines Salzburger Berufsverbandes.