„Diese heute fast vergessene Eisgewinnung im 19. Jahrhundert war abenteuerlich. Das sieht man auch auf den alten Fotos, die noch existieren. Das Eisfeld am Fuß der Birnhorn-Südostwand wurde zuerst der Länge nach geschlitzt. Dann folgten Sprengungen mit Dynamit. Das Eis wurde zu Blöcken zerkleinert und über eine hölzerne Rutsche weiter ins Tal gebracht.“
So erzählt der Lokalhistoriker Alois Schwaiger aus Leogang, eigentlich ein promovierter Physiker. Er erforscht im Ruhestand die Ortsgeschichte und hat auch die dicke und sehr lesenswerte Chronik der Mitterpinzgauer Gemeinde in Buchform verfasst.
Treue Kunden mit Bierkellern
Die großen Brauereien in München brauchten im 19. Jahrhundert das Pinzgauer Eis dringend für die Kühlung ihrer Bierkeller. Der unterirdische Abschmelzprozess dauerte dort auch in heißen Sommern erstaunlich lang. Ergebnis solcher Bemühungen waren Tausende Fässer kühles Bier bis in den Herbst: „Wenn Eis in großen Blöcken ohne Sonnenlicht und ohne Zustrom von warmer Luft gestapelt wird, dann dauert es relativ lang, bis es zerfließt und verschwindet. Und die Lufttemperatur bleibt bis zum letzten Block immer knapp über dem Gefrierpunkt, also ideal für die Bierkühlung.“
Das las man damals in der Münchner „Illustrierten Zeitung“ am 18. November 1897:
„Es wurden auch die Gletscher des Arlbergs, des Glocknergebietes und des Feuersteins bei Gossensaß besichtigt, Pläne für deren Ausbeutung entworfen und wieder verworfen, bis sich endlich das durch Lawinen gebildete und vergletscherte Schneefeld beim Birnhorn als das für die Ausbeutung am meisten geeigneten Objekt darbot.
Dieses Schneefeld liegt in einer trichterförmigen Einsenkung an den steilen Hängen, erreicht hier die Höhe eines großen Kirchturms und fällt mit einer Neigung von 25 und bis zu 30 Grad ab. Das Innere des Schneefeldes wird von einem Bach durchflossen und bildet eine wunderbare, mächtige Eishöhle. Die gewaltige Ausdehnung ist geeignet, Tausende von Waggons Eis abzugeben.
Die Ausbeutung wird in der Weise bewirkt, dass man in das Eis Stollen in einer Höhe von zwei bis neun Meter und einer Tiefe von zwei bis 15 Meter treibt. Das an die Felsen fest angefrorene Eis wurde mittels Dynamit gesprengt … Die Beförderung der Eiswaggons durch die Dampfeisenbahn geschieht so rasch, dass das Eis, das Montags am Birnhorn gewonnen wurde, schon Mittwochs in München ist.“
Eis aus Lawinenschnee als Goldgrube
Dazu wurde im 19. Jahrhundert auch viel Eis aus dem Zeller See herausgeschnitten und mit der Bahn nach München gebracht. Wenn der See dann im Frühjahr eisfrei war, übersiedelten die mehr als 140 Arbeiter an den Fuß der 1.300 Meter hohen Südost-Wand des Birnhorns in Leogang.
„Damals existierte da oben beim so genannten Birnbachloch dieser viele Meter dicke Gletscher, der dann im Sommer noch den Nachschub garantierte“, sagt Lokalhistoriker Schwaiger: „Die Holzrutsche war mehr als 1.600 Meter lang. Das Eis wurde dann an deren Ende auf Pferdefuhrwerke verladen. Diese brachten es bis zur Eisenbahn. Dazu wurde sogar eine eigene Haltestelle eingerichtet, die noch weit ins 20. Jahrhundert in Betrieb war – neben dem eigentlichen Bahnhof Leogang. Sie hat Leogang-Steinberge geheißen.“
Bau der Eisenbahn war Schlüsselfaktor
Generell war es nur der neuen Eisenbahn mit ihren leistungsfähigen Dampfloks zu verdanken, dass der Eisverkauf nach München überhaupt ins Rollen kam. Die im Reich der Habsburger als „Gisela-Bahn“ bekannte Strecke durch weite Teile des Salzburger Berglandes wurde 1875 fertiggestellt – zu Ehren der Erzherzogin Gisela, der 1856 geborenen Tochter des Herrscherpaares Franz Joseph und Sisi.
Die Bahnroute ist bis heute eine der wichtigsten Verbindungen innerhalb Österreichs – von Salzburg über Bischofshofen, Schwarzach, Zell am See, Saalfelden, Leogang, Hochfilzen, St. Johann in Tirol und Kitzbühel bis Wörgl. Von dort ging es mit dem Leoganger Eis über Kufstein und Rosenheim in die bayerische Hauptstadt. Die perfekte Verkehrslage der Leoganger war der entscheidende Wettbewerbsvorteil gegenüber Dörfern in den Hohen Tauern oder Zillertaler Alpen, die noch viel größere Gletscher, aber keinen so nahen Bahnanschluss hatten.
Es gab noch keine Kühlschränke
Warum überhaupt Eis aus altem Lawinenschnee zur Kühlung von Bier? Es gab noch keine Kühlschränke, keine Kühlkammern wie heute. Der deutsche Techniker Carl von Linde meldete erst 1873 seine revolutionäre Kälte-Kompressormaschine zum Patent an. Und erst um 1900 wurde in den Ballungszentren auf die elektrisch betriebenen, bis heute in ähnlicher Form funktionierenden Linde-Systeme umgestellt. Damit mussten sich die Eisarbeiter in Leogang und beim Zeller See neue Jobs suchen.
Pionier-Fotos wie aus dem Yukon Territory
Auch im globalen Handel eröffnete die bahnbrechende Kühltechnik des Carl von Linde neue Möglichkeiten. So überschwemmten Australiens und Neuseelands Züchter bald die Märkte in Europa auf dem Seeweg mit tiefgekühltem Schaf- und Lammfleisch, was zuvor logistisch unmöglich war. Bis dahin konnte man Fleisch in der Schifffahrt nur im gepökelten, getrockneten, geräucherten oder lebenden Zustand über weite Strecken transportieren.
Wer die alten Leoganger Schwarzweiß-Fotos von 1897 betrachtet, könnte Ähnlichkeiten der Pinzgauer Eismänner mit den Abenteurern und Goldsuchern am Yukon in der fernen Arktis Amerikas entdecken. Auch diese rangen – genau in diesen Jahren der Pionierzeit – einer unerbittlichen Wildnis ein wenig Ertrag für das bessere Leben ab. Unklar bleibt, ob Leoganger Eis auch für Brauereien in Salzburg, Oberösterreich, Wien und Budweis (Cesky Budejovice) in Südböhmen auf die Bahn verfrachtet wurde. Bisher finden sich dazu keine verlässlichen Quellen, es gibt aber ein paar Hinweise.
Die Stimme des Heimatforschers zu hören im Bericht von ORF Radio Salzburg:
„Stoff für Abenteuerfilm“
Die Eisgewinnung unter der Birnhorn-Südostwand geriet im 20. Jahrhundert fast komplett in Vergessenheit. Bis der ehrenamtliche Lokalhistoriker Schwaiger alte Zeitungsberichte in Archiven ausgrub und für die Ortschronik der Mitterpinzgauer Gemeinde auswertete: „Da wäre schon auch genug Stoff und Landschaft für einen Abenteuerfilm, wenn man ein spannendes Drehbuch drumherum basteln würde – vielleicht auch mit einer jungen, resoluten und tatkräftigen Wirtin neben den alpinen Pionieren“, schmunzelt der Heimatforscher.
„In Südtirol bis in die 1950er“
Die Literaturwissenschafterin Monika Damisch aus Bozen (Südtirol/Alto Adige) hat uns dazu geschrieben, dass dort so genannte „Eiskästen“ in Privathaushalten noch bis in die späten 1950er-Jahre in Betrieb waren: „Die Eisblöcke konnte man in Ledertaschen vom Biergroßhändler holen. Es hieß, sie stammten aus Gletschergebieten in der Ortlergruppe. Ich hab’ als Kind immer über die Eisblöcke geleckt und versucht, die Zunge festfrieren zu lassen, kein leichtes Unterfangen im sommerlich heißen Bozen.“