Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg
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Geschichte

75 Jahre Kriegsende: Aufbruch in ein gemeinsames Europa

Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren war gleichzeitig auch der Start für eine neue Zeit. Der Übergang von der Hitler-Diktatur in eine freie, demokratische Gesellschaft war aber auch in Salzburg nicht gerade einfach. Auswirkungen des Nazi-Regimes waren in der Gesellschaft lange spürbar – und sind es vereinzelt heute noch.

Jahrelang war der Krieg Alltag für die Bevölkerung, dann war er aus – aber: die vertraute Welt lag in Schutt und Asche. Es ging ans Aufräumen, auch im übertragenen Sinn – denn es ging um ein neues Zusammenleben von Tätern, Opfern und Mitläufern. Eine zentrale Rolle dabei kam gerade in Salzburg der katholischen Kirche zu. Am 20. September 1945 sind die österreichischen Bischöfe erstmals seit Kriegsende zusammengekommen – in Salzburg. Es ging um den Wiederaufbau der Gesellschaft.

Ehemalige Nazis wandten sich an die Kirche

Berichte von Lager-Seelsorgern bestärkten die Bischöfe darin, sich auch um ehemalige Nazis zu kümmern – aus Angst davor, dass ansonsten der Kommunismus die katholische Kirche als Religion ablöse. Der Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher war in der Nachkriegszeit der wichtigste Kirchenfürst Österreichs. Er war die moralische Instanz, auch für frühere Nazis. Viele von ihnen sahen sich in den Monaten und Jahren nach 1945 als Opfer der Nachkriegsgesellschaft und wandten sich an Rohracher, um um Hilfe zu bitten. „Es handelte sich ja nicht nur um hochrangige Vertreter der NS-Diktatur, sondern auch um kleine Mitläufer, die teilweise auch in Internierungslagern saßen und um Unterstützung ansuchten, um frühere Freilassung – das waren meistens Interventionen der Ehefrauen. Bis hin zu hochkarätigen Vertretern der NS-Diktatur“, erklärte Thomas Mitterecker, Leiter des Diözesanarchivs.

Politik besprach sich mit Kirche

Es sei überraschend gewesen, dass auch Erzbischof Rohracher sich so vehement für die NS-Belasteten eingesetzt hat, meinte der Historiker und ehemalige Landeshauptmann Franz Schausberger. „Erzbischof Rohracher war als NS-kritischer Bischof bekannt, der bei den Alliierten und beim Papst hohes Ansehen hatte.“ Auch die Politik besprach sich mit dem Salzburger Erzbischof, zum Beispiel was den Umgang mit ehemaligen Nazis betraf, erinnerte sich sein damaliger Mitarbeiter: „Im Priesterseminar war auch ein solches U-Boot untergebracht als Bibliothekar, der nirgendwo gemeldet sein durfte, weil er offenkundig auch Auszeichnungen der NS-Diktatur hatte, aber man durfte nicht darüber sprechen“, schilderte Johannes Neuhardt, ehemaliger Zeremoniär von Erzbischof Rohracher.

Salzburger Erzbischof Andreas Rohracher
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Erzbischof Rohracher galt nach Kriegsende als moralische Instanz

Bischöfe stellten Amnestiegesuch an die Alliierten

Im Internierungslager Glasenbach südlich der Stadt Salzburg setzten die Amerikaner Funktionäre des NS-Regimes fest. Tausende durchliefen das Lager, wurden nach möglichen Verbrechen abgeklopft. Zu Weihnachten 1945 forderten die österreichischen Bischöfe „Mehr Milde bei der Ausübung der Gerechtigkeit“ und beschlossen ein Amnestiegesuch an die Allierten – also de facto die Freilassung jedes inhaftierten Nazis. „Ich meine die Leute, die ihm geschrieben haben, haben gelogen in einem Ausmaß, wie man es sich kaum vorstellen kann. Seine Fünde war, dass er sich nicht gekümmert hat, ob er Kriegsverbrecher war oder nicht – er hat ihnen geglaubt oder zumindest so getan als ob“ erklärte Historiker Ernst Hanisch.

„Befreiung Österreichs ist die große Lüge“

Sepp Forcher war am Ende des Zweiten Weltkriegs 15 Jahre alt. Er erlebte die Zeit unmittelbar nach dem Krieg und den Wiederaufbau Salzburgs hautnah mit – und kannte damals niemanden, der das Gefühl hatte, befreit worden zu sein: „Die Politik hat von der großen Befreiung Österreichs geredet – das ist ja auch die große Lüge, weil man vergessen hat, wie viele Österreicher für Hitler 1938 gestimmt haben. Aber sie haben das sehr geschickt gemacht. Das wir heute so stark dastehen, hat dort seinen Anfang genommen“, so Zeitzeuge Forcher.

75 Jahre Kriegsende in Salzburg

Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren war gleichzeitig auch der Start für eine neue Zeit. Der Übergang von der Hitler-Diktatur in eine freie, demokratische Gesellschaft war allerdings auch in Salzburg nicht gerade einfach.

Braunes Gedankengut spiele heute keine Rolle mehr

NS-Idologie, die findet sich heute nur noch vereinzelt in unserer Gesellschaft – und zeigt sich in Schmierereien, in Verfahren nach dem Wiederbetätigungsgesetz. „Das hat übrigens nach dem Krieg lange gedauert, bis das in unser Hirn geht – dass das keine Lüge ist, keine Propaganda-Lüge der Amerikaner – mit Mauthausen oder Ausschwitz, sondern die blutige Realität. Und wenn du das einmal begreifst, dann ist es vorbei“, so Forcher. Menschen, die das nicht begreifen würden, sind Idioten. „Das sind die selben Leute, die glauben, dass die Welt eine Scheibe ist.“

Sepp Forcher in seinem Arbeitszimmer
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Menschen, die nicht begreifen, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist, sind Idioten – das sagt Zeitzeuge Sepp Forcher

Braunes Gedankengut – davon ist auch der Zeitgeschichtler und Ex-Politiker Schausberger überzeugt – würde heute in Wahrheit keine Rolle mehr spielen. „Von braun kann praktisch überhaupt keine Rede sein. Es gibt immer ein paar irrgeleitete Neonazis, die hält unsere Demokratie aber leicht aus.“

Aufschwung mit Festspielen für ein freies Österreich

Prägend für Salzburg in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg war der Aufschwung des kulturellen Lebens. Eine entscheidende Rolle kam dabei den Salzburger Festspielen zu. „Dieser frühe Beginn von Festspielen soll zeigen, dass mithilfe von Festspielen und Vereinten Nationen ein freies und demokratisches Österreich wieder entstehen wird – das ist doch ein wunderbarer Auftrag“, meinte Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler.

Salzburger Festspiele Jedermann Bühne
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Prägend für Salzburg in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg war der Aufschwung des kulturellen Lebens

Ein Festival von Weltgeltung entstand, dazu ein unglaublicher wirtschaftlicher Aufschwung im gesamten Land, die bedeutendste – wenngleich indirekte – Folge des Zweiten Weltkriegs ist aber wohl eine andere. Das Entstehen eines unabhängigen Österreichs – und eines gemeinsamen Europas. „Die Sozialpartnerschaft ist daraus entstanden, auch der Kompromiss wurde als etwas Positives empfunden. Die Entwicklung weg von der deutschen zur österreichischen Nation“, meinte Historiker Schausberger. Es habe gezeigt, dass Österreich lebensfähig ist.

„Ein vereintes Europa führt keinen Krieg mehr“

Es sei die größte Katastrophe, die die Welt gesehen habe – aber „aus dieser Katastrophe entstand der Wille, das darf es nicht mehr geben. Ein vereintes Europa wird nicht mehr Krieg führen. Im Sinne des Friedens war das das großartigste Projekt – das hätte ich mir nie vorstellen können, dass wir jemals so weit kommen“, sagte Zeitzeuge Sepp Forcher.