Gerichtspsychiatrie: Expertin sieht großen Missstand

Österreichs Justiz werde bald zu wenige Gerichtspsychiater haben, kritisierte die Gutachterin Gabriele Wörgötter bei einer Fachtagung in St. Gilgen (Flachgau). In Österreich gebe es für den Fachbereich nicht einmal einen Lehrstuhl an einer Uni.

Die Strafjustiz ist auf psychiatrische Sachverständige angewiesen, weil Gerichte nur auf Basis ihrer Gutachten psychisch kranke und zurechnungsunfähige bzw. als gefährlich anzusehende Täter in den Maßnahmenvollzug einweisen können. „Es werden sich immer weniger forensische Psychiater finden, die sich dieser Aufgabe widmen werden“, prophezeit die renommierte Gerichtsgutachterin Gabriele Wörgötter.

Keine Ausbildung an der Uni bisher

Ausschlaggebend dafür sind mehrere Faktoren, erläuterte die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie im Rahmen einer Tagung der Fachgruppe Strafrecht der Richtervereinigung in St. Gilgen, die Freitag zu Ende ging. Zum einen fehle in Österreich nach wie vor ein Lehrstuhl für forensische Psychiatrie: „Kollegen, die sich für das Sachverständigenwesen bei Gericht interessieren, müssen sich das entsprechende Wissen im Selbststudium und auf eigenes Engagement aneignen.“

„Nachwuchsleute im luftleeren Raum“

„Es fehlen hierzulande auch Qualitätskriterien hinsichtlich der Untersuchung von Betroffenen bzw. Angeklagten, an denen sich angehende, aber auch schon länger praktizierende Gerichtsgutachter orientieren könnten“, bemängelt Wörgötter: „Man tappt im luftleeren Raum. Es gibt keine Richtlinie, keinen Halt.“ Letzten Endes zählt somit vor allem die eigene Erfahrung, die sich ein Sachverständiger im Zuge seiner Tätigkeit für seine Justiz aneignet.

Immer mehr Stress und Zeitmangel

Für die Erstellung ihrer Expertisen wird den Gutachtern jedoch immer seltener ausreichende Zeit zugestanden. Eine fatale Entwicklung, wie Wörgötter betonte: „Je mehr Zeit man hat, umso mehr kann man vom Betroffenen erfahren und dem Gericht mitteilen.“ Für eine fundierte Expertise wären manchmal mehrere Untersuchungstermine erforderlich, die aufgrund des zeitlichen Drucks aber nicht durchgeführt werden.

Kritik an schlechter Bezahlung durch den Staat

Als „indiskutabel“ bezeichnete Wörgötter die finanziellen Rahmenbedingungen für gerichtlich zertifizierte und beeidete medizinische Sachverständige. Für einen Untersuchungstermin erhält ein Gerichtspsychiater 116,2 Euro. Für die Teilnahme an einer Hauptverhandlung kann er - unabhängig davon, ob es sich um ein 20-minütiges Einzelrichterverfahren oder einen Schwurprozess mit einem umfangreichen Beweisverfahren handelt - 33,8 Euro verrechnen.

Gefälle zwischen Ost- und Westösterreich

Bei der Honorierung der gutachterlichen Tätigkeit ist laut Wörgötter insofern ein West-Ost bzw. Süd-Ost-Gefälle spürbar, als im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien Strafrichter von ihrem Ermessen Gebrauch machen und die von ihnen beschäftigten Psychiater etwas großzügiger abgelten. Für ein Einweisungsgutachten werden demnach in Wien 2.000 bis 3.000 Euro bezahlt. In anderen Bundesländern sind es dagegen ein paar 100 Euro. „Jeder Handwerker bekommt mehr“, so der Befund Wörgötters.

Die Anzahl der im Maßnahmenvollzug Untergebrachten hätte sich in den vergangenen Jahren überproportional erhöht, bemerkte Wörgötter. Das hänge auch mit einer restriktiveren Entlassungspraxis zusammen. Kollegen, die abzuschätzen haben, ob ein geistig abnormer Straftäter noch als gefährlich einzustufen und damit weiter anzuhalten ist - die Entscheidung darüber liegt letzten Endes bei den Gerichten -, gingen das Risiko mitunter nicht ein, die mit dem Befürworten einer bedingten Entlassung verbunden ist.

„Ständig Gefahr, von Presse beschimpft zu werden“

Wenn sich nämlich herausstellt, dass - wie jüngst im Fall des Mannes, der nach seiner bedingten Entlassung aus der Maßnahme eine Prostituierte getötet, zerstückelt und im Neusiedler See versenkt haben soll - sich ein Gutachter geirrt hat, wären die Folgen dramatisch. „Als Sachverständiger ist man ständig in Gefahr, dass man von der Boulevardpresse beschimpft wird“, erklärte Wörgötter. Das hinterlasse Spuren, „denn auch Sachverständige sind Menschen“. In weiterer Folge könne dieser Prozess daher dazu führen, „dass man Angst bekommt und in nicht eindeutigen Fällen anders reagiert und beurteilt“.