Immer mehr psychisch krank

Österreich ist psychisch krank, und zwar kränker als offiziell angenommen. 900.000 Menschen werden zur Zeit psychologisch oder psychiatrisch behandelt, 840.000 von ihnen mit Psychopharmaka. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer.

Das wurde am Donnerstag bei einer Pressekonferenz der Universität Salzburg bekannt gegeben: Demnach wird ein Drittel der Fälle gar nicht erst diagnostiziert. „Man kann davon ausgehen, dass 1,2 Millionen Österreicher psychisch krank sind“, sagt Manfred Stelzig, Psychiater, Psychotherapeut und Leiter des Sonderauftrages für psychosomatische Medizin im Universitätsklinikum Salzburg.

Dabei gehe es nicht um den üblichen psychologischen Faktor, der gesamtmedizinisch gesehen bei vielen organischen Problemen beteiligt ist, betont Stelzig: „Wir reden hier von echten Angststörungen, Depressionen, somatoformen Störungen, Suchtkrankheiten, schweren Schlafstörungen, Demenz und anderen explizit als Probleme der Psyche definierten Krankheitsbildern.“

„Behandlung günstig im Vergleich zu Folgekosten“

Die fallweise durchaus zeitaufwendige Behandlung dieser Krankheiten wäre keinesfalls teuer, argumentierte Stelzig. „Abgesehen davon, dass Nicht-Diagnose und Nicht-Behandlung dieser Erkrankungen zu unnötigem Leid der Patienten führt und die Lebensqualität schwer beeinträchtigt, könnte mit konsequentem Behandeln viel Geld gespart werden. Denn was wirklich teuer ist, sind Krankenstände, Krankenhausaufenthalte und Krankengeld.“

Stelzig verwies auf eine Reihe von Studien aus Deutschland. „Manfred Zielke von der Universität Mannheim hat in seiner groß angelegten Versuchsreihe 300 Patienten sechs Wochen lang behandelt und dann drei Jahre lang beobachtet. Eine ebenfalls 300 Patienten umfassende Vergleichsgruppe wurde nicht behandelt und nur beobachtet. Fazit: In der behandelten Gruppe sanken die Krankenhausaufenthalte um 50 Prozent, die Krankenstände um 15 Prozent. Die Kassen ersparten sich bei diesen 300 Patienten insgesamt 20 Prozent an Gesamtkosten.“

„Krankheit von praktischen Ärzten oft nicht erkannt“

Warum nach wie vor so viele Patienten nicht behandelt werden, liege daran, dass es als peinlich empfunden würde und karriereschädlich sei, an psychischen Erkrankungen zu leiden oder dies zuzugeben. „Außerdem fehlt vielen praktischen Ärzten und auch dem medizinischen Personal in den Krankenhäusern der klinische Blick für die Psychosomatik. Man klärt organische Ursachen ab, und wenn da nichts herauskommt, werden die Patienten oft alleine gelassen.“

Stelzig erneuerte die altbekannte Forderung nach Psychotherapie auf Krankenschein, nach einer besseren psychiatrischen Ausbildung der Turnusärzte und nach Einführung eines Facharztes für Psychosomatik nach dem Vorbild Deutschland. „Obwohl das gesamtwirtschaftliche Einsparungspotenzial durch die psychosomatische Medizin hervorragend dokumentiert ist und nicht mehr infrage gestellt werden kann, wehren sich Kassen und Gesundheitspolitik mit Händen und Füßen. Das ist ein merkwürdiges Phänomen, das wohl auch damit zu tun hat, dass in den Beratergremien überwiegend Somatiker sitzen.“

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