„Stille Nacht“ als politisches Lied

Im Zweiten Weltkrieg spielte das Lied „Stille Nacht“ im Kampf der USA gegen Nazideutschland eine politische Rolle. Der nach Amerika geflüchtete Salzburger Leopold Kohr warb damit für die Befreiung Österreichs. Auch Roosevelt und Churchill sangen es 1941 gemeinsam.

Stille Nacht als politisches Lied

American Red Cross / Lilian Neuner

Salzburg in einer amerikanischen Weihnachtsgeschichte über „Stille Nacht“ im Zweiten Weltkrieg

Die Alliierten planten im Zweiten Weltkrieg ursprünglich, Österreich bei Deutschland zu belassen, wenn Hitler eines Tages besiegt sein sollte. Man dachte, es gäbe längst zu viele Deutschnationale und Nationalsozialisten in Österreich - und zu wenige, die einem neuen österreichischen Staat treu sein würden.

Dieser Befürchtung bzw. diesem pessimistischen Geschichtsbild widersetzten sich einige geflüchtete Österreicher wie Leopold Kohr vehement. Der Salzburger und Hitler-Gegner stammte aus Oberndorf (Flachgau), wo er 1909 geboren wurde und das Lied „Stille Nacht“ im Jahr 1818 uraufgeführt wurde.

Propaganda für die Freiheit

Millionen Menschen weltweit singen es in christlich geprägten Kulturkreisen jedes Jahr, in vielen Dutzend Sprachen. Und weltweit wissen nur wenige, woher es kommt. Leopold Kohr verwandelte ab 1939 das auch in Nordamerika sehr populäre Weihnachtslied zur publizistischen Waffe gegen jene, die die Republik Österreich im Frühling 1938 beim „Anschluss“ ausgelöscht hatten. Der Flüchtling Kohr arbeitete damals als Journalist und Kommentator für führende amerikanische Zeitungen wie „New York Times“ und „Washington Post“.

Von Gerald Lehner, Kohr-Biograf, Autor und ORF-Redakteur in Salzburg

Kohr nutzte die Entstehungsgeschichte von „Stille Nacht“, um den Amerikanern und Kanadiern alljährlich Österreichs eigenständige Kulturgeschichte zu präsentieren - in Dutzenden Zeitungsartikeln. Zum Beispiel in einer liebevoll gestalteten Story für das Magazin des amerikanischen Jugendrotkreuzes, die er Weihnachten 1944 veröffentlichte.

Leopold Kohr an der Schreibmaschine Philosoph Ökonom Journalist www.kohr.at

Gerald Lehner

Der später als Philosoph international bekannte Austro-Amerikaner Leopold Kohr arbeitete bis wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1994

Die Illustratorin Lillian Neuner zeichnete für Kohr das idyllisch verschneite Oberndorf im Vordergrund, weiter hinten den Mönchsberg mit der Festung Hohensalzburg. Im Hintergrund leuchten die Alpen und über der Idylle die Sterne der Heiligen Nacht. Der Text suggeriert, sein Autor sei tief religiös. Wer Kohr gut kannte, muss spätestens an dieser Stelle schmunzeln.

Gezielter Druck auf Tränendrüsen

Im katholischen oder protestantischen Sinn tief gläubig war Kohr nicht. Dennoch verpackte er 1941 viel Wehmut in seine Zeilen:

„Oberndorf is only a small village in Austria. But it is my village, and this is why I often like to think of it In the distance rise the mighty chains of the Alps to their majestic height. And the melody will float out again from the village which created it to the world to which it belongs.“

Die Menschen von Oberndorf in Österreich seien stolz, schrieb Kohr, dass ihre Heimat auserwählt worden sei, die Menschheit reich zu beschenken. Mit diesem Lied, das so einfach und schön sei und die Herzen berühre. Weder Beethoven noch Schubert hätten so etwas schreiben können. Es sei ein Lied, das nur in einem Dorf habe entstehen können, geschaffen aus tiefem Glauben und dem Trost, der in solchen Gegenden spürbar ist. „Silent Night", die wunderbare Hymne der Christenheit, entstanden in Österreich:

“Then, wherever I am, in Paris, in London, in New York, in Toronto or in Los Angeles, everbody sings Silent Night."

Stille Nacht als politisches Lied

American Red Cross / Lilian Neuner / Repro: Gerald Lehner

1941: Curchill & Roosevelt sangen gemeinsam

Während Kohr die Emotionen seiner Leser schürte, schlug er die Brücke zur Politik. Er schilderte ein Erlebnis, das drei Jahre zuvor - zu Weihnachten 1941 - stattgefunden hatte. Kohr war damals in Washington DC im Garten des Weißen Hauses mit dabei, als dort eine große Menschenmenge darauf wartete, dem US-Präsidenten Segenswünsche zu übermitteln. Roosevelt hatte seinen britischen Verbündeten Winston Churchill zu Gast. Die Staatsführer waren wegen Hitlers Siegen in größter Sorge und berieten, was zu tun war. Als die Dämmerung hereinbrach, betraten Roosevelt und Churchill die Terrasse und sangen mit den versammelten Menschen „Silent Night". Drei Jahre später beschrieb nun Kohr - ein Jahr vor Ende des Zweiten Weltkrieges - dieses Szenario im Magazin des amerikanischen Jugendrotkreuzes:

Sendungshinweis

„Zauberhafte Weihnacht im Land der Stillen Nacht“, 20.12.2014, 20.15 Uhr, ORF 2

“Maybe it was only I who had tears in my eyes. But I thought, sometime, when freedom and peace reign over the world again, and Austria is independent anew, I will tell them at home about the President and the Prime Minister singing Silent Night."

Kohrs Stories sehr populär

Noch perfekter ließen sich Weihnachtskitsch, Gefühle, Politik und Krieg kaum verbinden. Bis Mitte der 1950er-Jahre produzierte Kohr viele Storys dieser Art in unterschiedlichen Längen. Nach Kriegsende nahm er sein politisches Kalkül etwas zurück und konzentrierte sich noch mehr auf die reinen Gefühlsebenen, das Leuchten der Kinderaugen und die Idylle des befreiten Österreich. Chefredakteure rissen ihm solche Artikel für Weihnachten jedes Jahr aus der Hand. Die Sammelmappe meines Kohr-Archivs ist dick, und fast scheint es, als hatte der Salzburger mit „Silent Night" für amerikanische Medien im Winter ein eigenes Ressort erfunden.

Von gebürtigem Braunauer eingefädelt

Diese Möglichkeiten und Strategien verdankte Kohr seinem Förderer Egon Ranshofen-Wertheimer, einem gebürtigen Innviertler aus Braunau am Inn. Der war im Zweiten Weltkrieg ein Berater des Weißen Hauses, 1945 ein Mitbegründer der Vereinten Nationen und eine der zentralen Figuren des österreichischen Widerstandes gegen Nazideutschland. Ranshofen-Wertheimer wurde dennoch von der offiziellen Geschichtsschreibung Österreichs vergessen, ehe ihn meine Forschungen und Publikationen wieder ein wenig ins Bewusstsein riefen.

Bibliografie, Quelle

Gerald Lehner: „Das menschliche Maß. Eine Utopie? Gespräche mit Leopold Kohr über sein Leben“, erschienen 2014 im Salzburger Verlag Edition Tandem.

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